E-Bikes sind die neuen Töffli – oder sogar mehr?

Ein Beitrag aus dem SRF-Videoarchiv weckt die Erinnerung an den Töffliboom. Und er erlaubt den Vergleich zum Elektrovelo mit drei wesentlichen Erkenntnissen. Daraus lassen sich zwei Schlüsse ziehen für die Zukunft des Velo- und Elektrovelohandels.

Über einen Beitrag im Wissensmagazin Higgs bin ich auf eine Perle aus dem SRF-Archiv gestossen. 1972 berichtete das Fernsehen über den Töffli-Boom und seine gefühlten negativen Folgen:

Die Zeitreise ist grossartig und sehr sehenswert. Aber nicht aus irgendwelcher Nostalgie, sondern ganz praktisch, wenn man Parallelen zieht zum heutigen Elektovelo-Boom. Für mich ergeben sich daraus drei Erkenntnisse:

1. Das E-Bike ist heute schon grösser als das Töffli
Im Bericht wird erwähnt, dass der Bestand der Töffli sich nach einer Gesetzesänderung von 1961 versechsfacht hat bis 1971. Damals kurvten dann 567‘000 Mofas über die Schweizer Strassen.  Damit kann das Elektrovelo locker mithalten: 2009 wurden in der Schweiz gerade mal 27‘000 E-Bikes verkauft. 2019 waren es bereits 183‘000.

Für das Marktbulletin 2020 habe ich daraus abgeleitet einen Bestand von knapp 810‘000 Elektrovelos per Ende 2019 berechnet. Das ist nicht nur in absoluten Zahlen deutlich mehr als beim Töffli zu seiner besten Zeit. Der Markt ist auch stärker und schneller gewachsen: 2019 war der Bestand an Elektrovelos in der Schweiz 16x grösser als zehn Jahre zuvor. Die Mofas nahmen im gleichen Zeitabschnitt während den 1960er und 1970er Jahre nur um das Sechsfache zu. Oder anders gesagt: Während zu Zeiten des Töffli-Booms pro Tag rund 130 neue Mofas auf die Strassen kamen, brachte der E-Bike Boom innert zehn Jahren täglich über 200 neue Velos mit Hilfsmotor in den Verkehr. Und ein Ende des E-Bike Booms ist nicht absehbar: 2020 wurden zum ersten Mal über 200‘000 Elektrovelos verkauft, und es deutet nichts darauf hin, dass die Nachfrage sich 2021 wesentlich abschwächen wird.

2. Erfolg weckt Widerstand
Der SRF-Beitrag bringt es deutlich hervor: Die wachsende Zahl der Mofas weckte Unbehagen in  der Bevölkerung. Mal abgesehen davon, dass wenig Verständnis für die Jugend und ihre Bedürfnisse da ist, zeigt sich in der Reportage auch eine starke Abneigung gegen das Fahrzeug und seine Nutzung. Liest man heute Leserkommentare zu Berichten über E-Bikes, dann ist der Ton nicht so viel anders. Der Schluss scheint daher naheliegend, dass viele Schweizer Mühe haben, wenn ein neues Verkehrsmittel plötzlich die Strassen bevölkert.

Kommentare wie dieser auf Watson sind üblich, wenn Schweizer Medien über den Erfolg von E-Bikes berichten.

Rein rationell gesehen erscheint das E-Bike im Vergleich zum Mofa aber geradezu harmlos: Der viel beklagte Lärm der Töfflis fällt beim E-Bike weg, und das so genannte „Frisieren“ ist kaum ein Thema. Im Beitrag ist davon die Rede, dass fast die Hälfte aller Mofas von der Polizei beanstandet wurden. Bei E-Bikes ist das Tuning hingegen kaum ein Thema. Und das, obwohl Speed-Kits bereits ab knapp hundert Franken angeboten werden, mit denen sich ein 25km/h-Elektrovelo auf 45 km/h oder noch mehr beschleunigen lässt. Händler berichten, dass nicht mal jedes zwanzigste E-Bike in ihrer Servicewerkstatt auf diese Art illegal aufgerüstet wurde.

3. Gesetze entscheiden über den Markterfolg
Dem Mofa hat eine Gesetzesänderung von 1960 zum Aufschwung verholfen. Und Ende der 80er Jahre trugen der obligatorisch vorgeschriebene Katalisator und die Helmpflicht dazu bei, dass das Töffli quasi in der Bedeutungslosigkeit versank. Beim Elektrovelo sieht es nicht viel anders aus: Die vergleichsweise liberale Gesetzgebung der Schweiz hat dazu geführt, dass sich das E-Bike hierzulande bereits früher durchsetzen konnte als in anderen Ländern. Und bis heute profitiert die schnelle Kategorie mit Tretunterstützung bis 45 km/h in der Schweiz von wesentlich unkomplizierteren Vorschriften als in der EU. Darum ist in der Schweiz etwa jedes zehnte verkaufte Elektrovelo ein schnelles. In Deutschland ist es gerade mal jedes zweihundertste. Sogar in absoluten Zahlen ist der Schweizer Markt für die so gennannten S-Pedelecs rund dreimal grösser als der deutsche.

Das Gegenteil erleben wir bei den Cargobikes. In der Schweiz wird ihre Nutzung durch eine strenge Gewichtslimite stark eingeschränkt, und die Vorschriften für den Kindertransport sind sehr ungenau formuliert. Im Gegensatz dazu regelt Deutschland das Transportvelo klarer und mit einer deutlich höheren Gewichtslimite. Und auch das zeigt sich in den Absatzzahlen: Der Anteil der Cargobikes an den Elektroveloverkäufen ist in unserem nördlichen Nachbarland rund zehnmal höher.

Welche Schlüsse kann der Velohandel nun daraus ziehen?
Zum Einen sollte er sich der Bedeutung des Elektrovelos für sein Geschäft bewusst sein. Die Zeit des Mofa-Booms wird gerne als goldene Zeit des Zweiradhandels bezeichnet. Viele Geschäfte verdienten damals gutes Geld, und daraus entstanden Strukturen, die sich über Jahrzehnte hielten – im Positiven wie im Negativen. Das Elektrovelo boomt nun noch mehr als das Töffli, und entsprechend kann man davon ausgehen, dass es den Markt noch stärker und länger prägen wird. Die Branche tut deshalb gut daran, sich auch mit langfristiger Perspektive auf das Elektrovelo einzustellen. Dabei hat sie den Vorteil, dass sie aus den Errungenschaften und Fehlern der Töffli-Jahre lernen kann.

Zum Andern sollte sich die Branche im Klaren sein, dass Ihr Erfolg nur zum Teil hausgemacht ist. Neben ihren eigenen Leistungen und Produkten beeinflussen auch äussere Faktoren wie Gesetze und gesellschaftliche Stimmung die Nachfrage stark. Die Branche tut deshalb gut daran, externen Erfolgsfaktoren ernst nimmt und pflegt. Dazu gehört Lobbyarbeit gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit. Das können nationale Verbände genauso wie lokale Initiativen. Die Winterthurer Velogschäfte machen es vor mit Kampagne zur Stadtweste. Es braucht Weitblick und kreative, konstruktive Ideen, ganz  nach dem Beispiel des unbekannten Mofa-Händlers im Fernsehbeitrag.

Übrigens:
Dass mich Higgs zu dieser Trouvaille geführt hat, freut mich doppelt. Denn mit dem Wissensmagazin verbindet mich eine grosse Freundschaft. Das Portal wurde vom Wissenschaftsjournalisten Beat Glogger gegründet, bei dem ich während meinem Studium als Praktikant viel vom Texthandwerk lernte – Danke Beat, danke Higgs!

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