What a Mess(e)!

Zwei zurück, eins vor: Die Terminplanung der grossen Branchenmessen steht symbolisch dafür, wie wenig die internationale Velobranche ihren Markt und ihre Kunden kennt und sehr sie ihrem Erfolg selbst im Weg steht.

Noch bevor die Eurobike in diesem Jahr erstmals mit dem neuen Konzept startet, distanzieren sich die Veranstalter bereits wieder davon. Das radikal geänderte Programm wird wieder getauscht gegen das frühere, langjährige Erfolgsrezept mit Austragung in der zweiten Wochenhälfte und Publikumstag, und auch der aufsehenerregend frühe Termin wurde um einen Monat im Kalender zurückversetzt. Und praktisch zeitgleich wie die führende Branchenmesse gab auch die Taipei Cycle Show als weltweit zweitwichtigster Branchenevent bekannt, dass er nach nur einem Jahr wieder vom Termin im Spätsommer zur vertrauten Austragung im März zurückwechseln wird.

Soweit, so gut. Man könnte nun sagen, dass die Messen ihr Lehrgeld bezahlt haben und von der Velobranche zur Kehrtwende gezwungen wurden. Nun ist es aber so, dass die Eurobike ihr Konzept nicht einfach aus einer Laune heraus und über die Köpfe ihrer Kunden hinweg umkrempelte. Der Neuausrichtung gingen intensive Gespräche mit den Ausstellern voran. Gerade die heute so arg kritisierten Eckpunkte wie der frühe Termin und der fehlende Publikumstag waren unmittelbare Folgen der Branchenkritik am bisherigen Messekonzept. Es dürfte für die Messeveranstalter nicht einfach zu verdauen gewesen sein, dass sie von ihren Kunden nun Prügel dafür beziehen, dass sie deren geäusserte Wünsche berücksichtigten.

Das ganze Wirrspiel rund um die Branchenleitmesse kann daher mit gutem Recht als Hinweis auf die aktuelle Befindlichkeit in der Fahrradindustrie gewertet werden. Und daraus lassen sich einige Schlüsse ableiten:

1: Die Veloindustrie spricht nicht mit einer Stimme
Nur weil alle Firmen Fahrräder, Komponenten oder Zubehör dazu anbieten, heisst das noch lange nicht, dass sie sich einig sind. Es gibt zwar gute Gründe dafür, dass verschiedene Firmen den Velomarkt unterschiedlich sehen. Kunden einer Sportvelomarke haben beispielsweise ganz andere Erwartungen an ein Produkt als diejenigen eines Elektrovelo-Spezialisten, und wer sich auf den qualitätsorientierten Schweizer Markt fokussiert, richtet sich anders aus als jemand, der sein Geld hauptsächlich im preissensiblen deutschen Markt verdient. Die grundsätzlichen Spielregeln des Handels zur Einführung und Bereitstellung von neuen Produkten sind davon aber eigentlich nicht betroffen. Sie gelten für alle Teilnehmer der Fahrradindustrie im Prinzip gleich.

2: Die Veloindustrie verliert Prioritäten aus dem Fokus
Dass die einen Fahrradanbieter bereits im Juni ihre Neuheiten der nächsten Fahrradsaison ihren Handelspartnern schmackhaft machen wollen und am liebsten erst drei Monate später, lässt darauf schliessen, dass sie die Spielregeln des Markts ganz unterschiedlich einschätzen. Erklären lässt sich das damit, dass manche Unternehmen vergessen haben, was ihnen auf Dauer den Erfolg sichert. Sie opfern eine langfristige Marktstrategie den kurzfristigen Verlockungen des schnellen Absatzerfolgs. Wer beispielsweise ernsthaft glaubt, dass er mehr Räder verkaufen kann, nur weil er seine Kollektion zwei Wochen vor dem Mitbewerber präsentiert, hat definitiv die prägenden Rahmenbedingungen des Fahrradhandels aus den Augen verloren. Dasselbe gilt für manche Preiskalkulationen und den Innovationszyklus von Produkten.

3: Die Veloindustrie vernachlässigt ihre Kunden
Unter den oben beschriebenen Umständen leidet vor allem eins: Die Geschäftsbeziehung zum Kunden. In den strategischen Überlegungen mancher Fahrradunternehmen haben die Bedürfnisse von Geschäftspartnern und Endverbrauchern offensichtlich ein ganz unterschiedliches Gewicht. Anders lässt es sich nicht plausibel erklären, dass die einen Aussteller über den Endverbraucher-Tag an der Eurobike maulen, während andere sich gleich verabschieden, wenn die Kontaktmöglichkeit zum Konsumenten aus dem Angebot gestrichen wird.
Wenn die Ansichten über den Wert des Kundenkontakts so grundlegend auseinander gehen, muss man vermuten, dass manche Unternehmen die Bedürfnisse ihrer Kunden falsch einschätzen oder in ihren strategischen Überlegungen schlichtweg ignorieren. Bestätigt wird diese Vermutung darin, dass erstaunlich wenige Unternehmen der Fahrradbranche in die langfristige Beziehung zu ihren Kunden investieren. Und das, obwohl das Velo und erst recht das E-Bike zu den wenigen Konsumgütern gehören, die noch regelmässig Service benötigen. Dass die Kundenzufriedenheit daher nicht zum Zeitpunkt des Kaufabschlusses endet, sondern erst richtig beginnt, wird leider gerade von den Playern im Markt oft ausgeblendet, die auf Dauer eigentlich am meisten von einer langfristigen Kundenbindung profitieren könnten.

Ein Mangel an Erfahrungskultur
Wie konnte es dazu kommen? Die Gründe sind vielfältig, und sie unterscheiden sich oft in ihrem Einfluss von Unternehmen zu Unternehmen. Für viele Firmen der Veloindustrie gilt aber in gleichem Masse, dass es an Wissen über den Markt und die Kunden fehlt. Grundlegende Erkenntnisse über Zusammenhänge und Bedeutung von Marken und Saisonzyklen sind in der Velobranche genauso wenig gefestigt wie das Wissen über Nutzerbedürfnisse und Kaufanreize. Deshalb werden grundsätzliche Rahmenbedingungen immer wieder in Frage gestellt, und es wird nach Try-and-Error-Prinzip ausgelotet, wie weit sie wirklich gültig sind.

Das Tragische ist, dass der Lerneffekt dabei sehr gering ist. Oft werden im Abstand von wenigen Jahren frühere Fehler wiederholt, sobald neue Köpfe an den strategischen Hebeln eines Unternehmens ziehen. Den einzelnen Personen kann man das oft nicht einmal übel nehmen. Viele würden durchaus gerne auf bereits gewonnene Erkenntnisse zurückgreifen. Dass sie es nicht können, hat viel mit einer besonderen Kultur der Velobranche zu tun, in der Wissen oft nicht gepflegt und geteilt wird.

In die Zukunft investieren statt in Fehler
Die beschriebenen Umstände sind mehr als schade. Denn durch diesen ewigen Selbstfindungsprozess bindet die Fahrradbranche enorm viele Kräfte, die anderorts fehlen. Denn es wäre für den langfristigen Erfolg der Velobranche entscheidend, wenn sie weniger Zeit und Geld in ihre stete Neuerfindung ihrer Strukturen und Prozesse stecken würde und diese Mittel dafür aufwenden könnte, dass das Velos und E-Bikes in Zukunft gleich viel oder sogar noch mehr Gewicht haben als Sportgeräte und Mobilitätslösungen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dafür sind momentan so günstig wie schon lange nicht mehr. Noch selten in der zweihundertjährigen Geschichte der Veloindustrie war es so erfolgsversprechend, neue Leute für das Velo zu begeistern wie heute.

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